Die letzte Gelegenheit

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via behance.net – Flying Saucer Attacks Tram – 110cm x 150cm / 2007 von Andreas M. Wiese

 

Es gibt Bilder, die würde ich mir sofort in die heimische Wohnstube hängen. Das da oben ist so eins. Nicht weil’s so dramatisch toll gemalt ist (es ist toll gemalt), sondern weil die Geschichten, die dieses Bild erzählen kann, so vielfältig sein können.

Was fällt mir gerade ein, wenn ich auf dieses Bild blicke? Mal sehen.

 

Brad Bury stand an einen Mast der Straßenbahnstromleitung gelehnt, am Strand, mitten im Nirgendwo, und blickte ins Land hinein. Der Strand war verlassen. Dieser Strand war eigentlich fast immer verlassen, denn dort hatten sich vor einigen Jahren einige schreckliche Unfälle mit Haien abgespielt. Kurz danach hatte sich dann auch noch dieser schlimme Unfall auf der Ölbohrplattform vor der Küste ereignet, der hier auf Jahre hinaus alles verseucht hatte. Der Strand war daraufhin einige Zeit zum Sperrgebiet erklärt worden. Seitdem sah man sehr selten Menschen an diesem Strand, außer einem alten Schriftsteller, der hier gelegentlich mit seinem alten Hund vorbeischlurfte.

Es war später Nachmittag. Die Sonne stand tief über dem Horizont im Westen und verursachte lange Schatten und tauchte die Stadt, die man dort schemenhaft erkennen konnte, in tiefes Schwarz.

Es waren die späten Achtziger und Brad war heute modisch voll auf der Höhe. Das musste er auch sein, denn er hatte sich eigentlich mit Mary-Jane in der Stadt zu einem sehr wichtigen Gespräch treffen wollen. Doch sie hatte ihren kleinen Bruder vorbei geschickt und sich entschuldigen lassen, weil ihre alte Mutter einen Schwächeanfall erlitten hatte, und sie sich um sie kümmern musste. Brad war natürlich enttäuscht, hatte aber Verständnis für ihr Handeln. Im Gegenteil, er fand es sehr verantwortungsvoll. Das war eins der vielen Dinge, die er an Mary-Jane mochte. Im Grunde genommen mochte er alles an Mary-Jane. Deshalb wollte er sie auch unbedingt heute treffen. Er wollte Mary-Jane nämlich sagen, dass er sich nun doch nach Wochen der Ungewissheit entschieden hatte, nicht an die Universität in Berkeley zu wechseln, um dann nach einer Weiterbildung in das Observatorium San José zu wechseln, weil er sich dem SETI-Team anschliessen wollte. Nein. Er würde bei ihr bleiben und in der Stadt als Lehrer arbeiten. Sie würde überglücklich sein.

SETI – „Search For Extraterrestrial Intelligence“. Das war für ihn schon immer ein Begriff voller Magie gewesen. Der Blick auf die Sterne und die Suche nach fremder Intelligenz im All. Weder seine Familie noch seine Freunde hatten ihm vor Jahren abgenommen, dass er wirklich den Weg eines Wissenschaftlers einschlagen wollte, und dann auch noch ausgerechnet die Astrophysik und die Suche nach Leben im All. Sinnloser ging’s ja wohl kaum, denn Brad hätte eine glänzende Karriere als Model machen können. Schon in der High School war er bei einem Talentwettbewerb aufgefallen und hatte sich auch so schon damals immer ein paar Dollar nebenher verdient.

Doch sein Ziel war die Erforschung des Weltalls. Schon immer. Was war da draußen? Was konnte man finden? Gab es Leben außerhalb der Erde? Diese Fragen stellte er sich seit frühester Jugend. Sie waren immer schon da und verlangten nach Antworten. Es war ihm schon immer schwer gefallen diesen Drang seinen Mitmenschen zu erklären. Doch er blieb beharrlich. Er hatte hart für sein Ziel gekämpft, hatte an der Universität bisher glänzende Leistungen und Abschlüsse erbracht, und musste jetzt nur noch zusagen, um ins SETI-Team zu wechseln.

Doch dann hatte er Mary-Jane getroffen, und war nicht auf sie vorbereitet gewesen. In einem einzigen Augenblick hatte sie sein Universum auf den Kopf gestellt. Sie hatte die Sterne neu geordnet und strahlte wie eine neue Sonne. Das Weltall mit all seinen Geheimnissen war plötzlich nicht mehr so wichtig für Brad. Was waren ein paar Piep-Töne und Amplituden auf einem Monitor gegen die Unterhaltungen mit Mary-Jane? Was waren sie gegen das gleißende Licht, das von ihr ausging und das alles andere in ihm überstrahlte? Was waren sie gegen die Wärme und die Geborgenheit, die er bei ihr spürte? Es fühlte sich an, als ob im Moment ein großer Masterplan in seinem Leben geändert worden wäre. Diese Gedanken und Gefühle waren in ihm so präsent und im Vordergrund, dass ihm letztlich die eine große Entscheidung doch leicht fiel. Und so hatte er sich jetzt gegen eine Karriere bei SETI entschieden, gegen die Suche nach ausserirdischem Leben. Er würde als Lehrer in einer kleinen High School zufrieden sein, denn er hatte Mary-Jane und auch eine Zukunft mit ihr vor sich.

Tief in Gedanken versunken über Mary-Jane und sein Leben, hatte er sich langsam und gedankenverloren von seinen Füßen durch die Stadt und dann aus ihr hinaus tragen lassen. Er war derart in Gedanken versunken, dass er erst, als er am Strand war, und fast schon nasse Füße bekam, bemerkte, wo ihn seine Schritte hingetragen hatten. Er fand das recht seltsam, denn an diesem Strand war er schon Jahre nicht mehr gewesen. Er erinnerte sich noch recht gut an seine Kinderzeit, in der er oft hier in der Nähe gewesen war. Damals gab es, nur ein paar hundert Meter von hier entfernt ein großes Strandbad mit Kiosken und kleinen Kneipen. Sogar die Straßenbahn führte hier vorbei, um die Badegäste herzubringen. Er erinnerte sich, dass er immer im Strandbad gesessen hatte und stundenlang in den Himmel gestarrt hatte. Das war damals so auffällig, dass seine Freunde sich über ihn lustig gemacht hatten. Er wusste selber nicht mehr, warum er dies getan hatte. Egal, das war lange her, und hier und jetzt nur noch eine Kindheitserinnerung. Alles hier schien nur noch Erinnerung zu sein, außer der Straßenbahn. Die gab es noch, aber das Strandbad war geschlossen und alle Gebäude nur noch Ruinen. Die Szenerie hatte etwas postapokalyptisches.

Er wandte seinen Blick vom Strandbad ab, lehnte sich an einen der Strommasten der Straßenbahn und schaute Richtung Stadt zurück. Der Wind wehte salzige Gerüche Richtung Stadt. In der Ferne hörte er sehr leise die Straßenbahn herankommen. Bestimmt würde die anhalten und ihn in die Stadt zurückbringen, denn wenn er es vermeiden konnte, wollte er nicht mehr zurücklaufen. Er betrachtete die Stadt in der Ferne, die im tiefstehenden Sonnenlicht nun fast so aussah, wie man sich eine futuristische City auf einem fremden Planeten vorstellt. Klischees. Leben auf fremden Planeten würde bestimmt von allem abweichen, was sich die Regisseure und SciFi-Autoren so vorstellten. Es gab sicherlich keine kleinen grünen Männchen und ganz bestimmt auch keine fliegenden Untertassen. 

In der Ferne vernahm er ein leises scharfes Zischen und kurz schoss die Frage durch seinen Kopf, was das für ein Geräusch war, dann war er allerdings wieder von fremden Planeten, SETI und seinem angestrebten zukünftigen Leben abgelenkt. Er sah das riesige fliegende Objekt in der Ferne also nicht, das gerade die Straßenbahn mit Strahlen beschoss. Er sah nicht die verdampfenden Menschen darin. Er sah nicht, wie sich die komplette Straßenbahn in Rauch auflöste. Er sah das alles nicht, denn er dachte wieder über seine Zukunft nach. Ein ganz leiser Zweifel, ob er sich richtig entschieden hatte, das musste er sich eingestehen, war da wohl doch noch vorhanden. Vielleicht würde er berühmt werden, weil genau er irgendwann mit einem Teleskop die Signale auffangen würde, die beweisen würden, dass es fremde Intelligenz im All gab. Das wäre fast so, als ob man ein Alien-Raumschiff mit eigenen Augen sehen würde. Davon hatte er als kleiner Junge immer geträumt. Er hatte immer von einer fliegenden Untertasse geträumt, die an einem Strand – ähnlich wie diesem – über ihm auftauchte. Eine blau schimmernde fliegende Untertasse, die ein intensives Summen von sich gab. Stimmen hatte er dann immer in seinem Traum gehört, die in einer unbekannten Sprache mit seltsamen gutturalen Lauten zu ihm sprachen. Er erinnerte sich an wechselnde Formen. Er erinnerte sich daran, dass er sich immer an dieser Stelle des Traums zu fürchten begann, denn etwas wurde von ihm erwartet. Man wollte etwas von ihm wissen. Das spürte er ganz deutlich, aber er zögerte. Nicht, weil er Angst vor dem Unbekannten gehabt hätte, sondern weil er sich plötzlich in sich selbst so fremd fühlte. Die Erinnerung an diesen Traum war plötzlich so nahe und präsent. Er glaubte sogar, in diesem Moment die Stimmen in seinem Kopf zu hören. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass er die Straßenbahn gar nicht mehr hörte. Er wollte sich umdrehen, als ihm das altbekannte Summen mit einer unglaublichen Intensität direkt ins Hirn zu dringen schien. Sein Kopf beugte sich nach hinten. Seine Augen erfassten eine riesige Scheibe – eine blau schimmernde Scheibe.

Die Scheibe sank immer tiefer herab. Sie erfüllte sein gesamtes Blickfeld. Das unglaubliche Summen drohte seinen Kopf zu sprengen. Er war wie gelähmt. Die Stimmen im Kopf wurden drängend. Er verstand die Laute nicht – nicht wie Worte, oder Sätze. Er wusste nur: Man wollte wissen. Informationen. Jetzt. Brad wand sich und zögerte, trotz des unglaublichen Drucks, den er in seinem Körper verspürte. Urplötzlich schoss ihm das Bild von Mary-Jane durch den Kopf. Sie füllte sein Denken aus und das war richtig so. Er wusste was richtig war.

Im nächsten Moment ließ der Druck des Summens nach. Brad war betäubt. Ganz langsam zeigte sich auf der Unterseite nun eine Öffnung. Es sah aus, als ob sich ein Mund öffnen würde. Unmöglich zu sagen, wie groß die Öffnung oder auch das ganze Objekt wohl sein mochten. Jedenfalls fiel plötzlich, und ohne Vorwarnung, etwas sehr großes aus der Öffnung heraus. Brad hörte keinen Aufprall, oder sonst irgendein Geräusch, außer dem unglaublich intensiven, alle Sinne betäubenden Summen. Im nächsten Moment aber war das Summen und mit ihm das Objekt verschwunden.

Ganz langsam löste sich Brad aus seiner Erstarrung und senkte seinen Kopf. Allerdings nur, um im nächsten Moment schon wieder zusammenzufahren, denn jemand hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Er fuhr herum und vor ihm stand der alte Schriftsteller. Sein Hund saß neben ihm und schaute Brad an. Der Schriftsteller sagte nichts, lächelte ihn nur an und zeigte auf etwas hinter Brad. Brad, unfähig zu irgendeiner sinnvollen Erwiderung, runzelte nur die Stirn und drehte sich langsam um. Hinter ihm stand die Straßenbahn. Die vordere Eingangstür war offen, aber von den Menschen in der Bahn beachtete ihn niemand. Brad vermeinte ein leichtes Flimmern und ein blaues Leuchten rund um die Bahn wahrzunehmen.

Der alte Schriftsteller sagte mit einer tiefen guttural klingenden Stimme hinter ihm:

»Wir warten nicht ewig. Das ist die letzte Gelegenheit.«

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Wie gesagt, schönes Bild, das.

 

 

 

2 Kommentare zu „Die letzte Gelegenheit“

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