Prädikat: „in Ordung”

Der Bundespräsident wurde heute für seine Rede zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung in den Medien gelobt. Er wurde in der Öffentlichkeit gelobt, weil er grundsätzlich nix falsches gesagt hat. Er sagte gestern nämlich zum Beispiel, dass er auch Präsident der Muslime hier in Deutschland ist. Das ist schon richtig, aber da hat er wohl seine Ansprache zum Jubiläum der Wiedervereinigung mit einer Rede auf dem CDU-Parteitag verwechselt, denn ausser seinen Parteigenossen, denen man diese Tatsache mal ins Stammbuch schreiben muss, lebt doch der allergrößte Teil unserer Bevölkerung schon lange mit dieser Tatsache und mit dem Willen es funktionieren zu lassen. Herr Wulff allerdings äußerte das gestern, als würde er seinen Parteifreunden erklären wollen, dass die Erde doch keine Scheibe ist. Ich vermeine allerdings jetzt noch ein gewisses Erstaunen aus seiner Stimme herauszuhören: “Huch, ich bin ja auch der Präsident von Muslimen!?”

 

Ich sag‘ es mal direkt: “Ihr Volk, Herr Wulff, lebt mit dieser Erkenntnis schon ziemlich lange, und würden ihre Politikerkollegen aus dem erzkonservativen Lager, und die mutlosen Polit-Taktiker aus den anderen Lagern, nicht schon jahrelang eine verfehlte Integrations- und Einwanderungspolitik, sowie einen fatalen Wirtschaftslobbyismus praktizieren, würden wir alle schon wesentlich besser mit dieser Tatsache leben.”

 

Ja, seine Rede war  “in Ordung”, sagen die Kommentare. Er hat nichts Falsches gesagt, sagen die Kommentare. Das ist ja schonmal was, sagen Kommentatoren. Wirklich? Es ist in Wahrheit doch viel zu wenig. Es ist kraftlos, denn im Prinzip vermeldete er doch nur das Unausweichliche. Er ging in seiner Rede keinen Schritt weiter als er unbedingt musste, und eigentlich ist “in Ordnung” doch ein vernichtendes Urteil.

 

Wo blieb da die Frage, ob man dann nicht auch das Grundgesetz endlich auf humanistische Fundamente stellen muss, damit es dann allen(!) Bürgern Deutschlands als Grundlage dienen kann, damit jeder der hier wohnen, arbeiten und leben will, einen fairen, klaren Deal namens Verfassung vor sich liegen hat, ungeachtet überkommener religiöser Scheuklappen, und egal, ob sie aus dem Orient oder dem Okzident stammen? Wo blieb die Aufforderung an die Bürger und die Politik, von diesem Punkt aus weiter zu denken und zum Beispiel eine Gleichberechtigung der Religionen zu diskutieren. Herr Wulff zitiert in seiner Rede Goethe, aber er denkt ihn nicht weiter. Er bewunderte später den damaligen Aufbruchswillen der Ostdeutschen, der mutige Schritte ins Ungewisse ermöglichte, aber das ist für ihn eigentlich nur Vergangenheit. Prinzipiell soll alles so bleiben, wie es ist.

 

Wo blieb die Aufforderung an Politik und Gesellschaft, sich in Anbetracht der aktuellen Ereignisse zu notwendigen Diskursen über Grenzen und Reformen der parlamentarischen Demokratie aufzumachen? Die Ereignisse und Diskussionen um “Stuttgart 21” zeigen doch wohl mehr als deutlich, dass in diesem Land Redebedarf besteht, und es dabei um sehr viel mehr als nur einen dämlichen Bahnhof geht.

 

Wo blieb die Aufforderung, sich in Anbetracht eines sich selbst auffressenden Kapitalismus, mit Finanzmärkten, die ganze Länder in den Ruin treiben, über gesellschaftliche Werte zu diskutieren? Herr Wulff wurde beim Schulschwänzer konkret, beim Bänker wurde er es nicht.

 

Der Präsident sagte, dass wir uns um die Kinder kümmern müssen. Er sagte das, in viele Worte verpackt, und mit dem Pathos eines Dorfpfarrers bei der Sonntagspredigt. Na, das ist ja wirklich eine bahnbrechend neue Erkenntnis. Sind wir wirklich schon so degenriert, dass man uns das sagen muss? Nein, sind wir nicht. Ich bin es nicht. Ich bin es nicht, weil ich bei folgendem Satz in der Rede – zum Thema Kinder und Erziehung – in mir Übelkeit aufsteigen spüre: “Manches kostet keinen Cent, nur Zeit und Zuwendung:[…]”

 

Herr Wulff glaubt wirklich, dass er das seinem Volk ans Herz legen muss?

 

Herr Wulff weiß offensichtlich nicht, dass der händisch arbeitende Teil seines Volkes real immer weniger Geld in der Tasche hat, und ergo immer weniger Zeit damit erkaufen kann. Herr Wulff ignoriert, dass der nichtarbeitende Teil seines Volkes durch die Gesetzgebung seiner Kollegen stigmatisiert wird und damit deren Kinder zu Bürgern zweiter Klasse gemacht werden, und mit der Erkenntnis aufwachsen, dass Geld alles ist in dieser Gesellschaft. Sogar Zuwendung kostet Geld. Er wird es merken, wenn er alt ist, der Herr Wulff. Na ja, nein, er wahrscheinlich nicht.

 

Es geht sehr wohl um Geld!

 

Hätte er doch nur seinen Kollegen Druck gemacht, Geld für die Kinder zur Verfügung zu stellen. Viel Geld. Deutschland erwirtschaftet genug Geld. Hätte er das getan, dann dürfte er gerne bei der nächsten Rede erzählen, dass Geld nicht alles ist, und den Eltern ins Gewissen reden.

 

Diese Rede ist wie ein Schmerzzäpfchen bei einer starken Erkältung: es beruhigt das Schmerzzentrum im Hirn und drängt den Körper zur Ruhe. Das war’s aber auch. Sie hat mit dem Kern der Krankheit nichts zu tun. Nimm es, und vertrau darauf, dass es besser wird. Im Grunde ist der Tenor der Rede nur ein “Rückt etwas zusammen, und dann weiter so!”, garniert mit etwas: “Seid lieb zueinander. Ging doch bis hier her auch!”.

 

Da gibt es keine Ecken, keine Kanten. Es gibt keine Vision für die Zukunft. Herr Wulff hat seinem Volk in einer homöopathischen Dosierung ins Gewissen geredet. Diese Rede ist in ihrer bräsigen Pfarrerhaftigkeit für mich beinahe noch unerträglicher als das “Wir(!) haben über unsere Verhältnisse gelebt.” von Frau Merkel.

 

Allerdings liege ich wahrscheinlich mal wieder völlig daneben, denn sollte es tatsächlich Menschen in diesem Land geben, denen man das kleine Einmaleins des menschlichen Zusammenseins als bundespräsidiale Rede näher bringen muss, dann entschuldige ich mich für meine schmale Landjungen-Perspektive, und vertraue, wie wohl die allermeisten anderen Bürger in diesem Land, in Zukunft darauf, dass Herr Wulff und seine Kollegen es schon richten werden. Herzlichen Glückwunsch, Deutschland.

 

[Die Rede des Bundespräsidenten, in schriftlicher Form, und tatsächlich, wie Kreuznacher treffend bemerkte, in passender Linkform von Google abgekürzt, kann man hier nachlesen: http://goo.gl/LAla ]

 

PS: Den letzten Satz der Rede verstehe ich überhaupt nicht: “Gott schütze Deutschland.” Wovor, Herr Wulff? Schade, ab da wäre es tatsächlich interessant geworden.

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