Pausenbrot

Reset-pola

Darf man an einem Tag wie heute ans Sterben denken? Ich finde schon. Das Jahr geht zu Ende. Es hatte einen Anfang und eben jetzt findet es sein Ende.

Es ist genug mit 2010. Es ist genug passiert in diesem Jahr, und ich muss und will hier keinen Jahresrückblick zelebrieren, denn damit wurden wir in den letzten Tagen – wie immer – überschwemmt. Jeder weiß es noch, oder hat es sich vorführen lassen, wie ereignisreich 2010 war. Die Erkenntnis daraus ist: Es ist tatsächlich genug mit 2010! Wir sind dieses Jahres müde geworden. Wir brauchen dieses Ende, damit in dieser kurzen Pause der Blick wieder auf das neue Jahr gerichtet werden kann, damit wieder eine Erwartungshaltung und Hoffnungen aufgebaut werden können. So funktioniert der Mensch.

Darum darf man den Jahreswechsel ruhig mit dem Sterben vergleichen, denn da geschieht, wenn es richtig und gut läuft, das Gleiche: Der Mensch wird geboren, lebt, wird alt, wird müde und begrüßt den Tod, weil er sagt, es war genug. Das wäre der Idealfall. Das Erstrebenswerte.

Ist er ein Christ oder Moslem, freut er sich auf das ewige Leben. Ist er Atheist, wundert er sich darüber, dass man sich auf die Ewigkeit freuen kann: Die Ewigkeit – ein Konzept, dass so völlig von unserem Leben, von unserer Natur, und von unseren Erfahrungen als biologische Wesen mit Verfallsdatum abweicht. Das, was unser Leben so wertvoll macht, das Wissen um die Endlichkeit und die Zerbrechlichkeit, und das was uns als Person ausmacht, nämlich unser Umgang mit diesem Wissen, soll dann plötzlich keine Rolle mehr spielen? Ich sage an dieser Stelle: Ich bin sehr viel mehr als meine Seele, und meine Seele ist nicht ich, sondern bestenfalls nur ein Teil von mir. Ich verstehe dieses christliche Konzept nicht. Für mich ist der Ausdruck Seele nur der Ausdruck des Menschen für seine Angst vor dem Nichts.

Doch egal wie und was man glaubt, in dieser Welt brauchen wir Pausen, diese Takte und Strophen, in die unser Leben eingeteilt ist. Vielleicht wird einem das auch mittlerweile wieder so bewusst, weil man als moderner Online-Mensch immer mehr von diese Taktungen verliert: Wir können rund um die Uhr online sein. Wir können rund um die Uhr kaufen. Wir erhalten rund um die Uhr Nachrichten aus aller Welt. Wir haben rund um die Uhr TV-Berieselung. Wir produzieren oder konsumieren rund um die Uhr Informationen, die per Web in alle Welt gepustet werden. Die Mobile-Generation ist ständig und überall online. Sendepause und Sendeschluss sind Begriffe, die eigentlich schon ausgestorben sind. Nur um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich rede hier nicht gegen die modernen Kommunikationsformen. Ich sage nur, dass wir in unseren globalen Informations- und Allmachtsphantasien teilweise wie Kinder agieren, die völlig übermüdet sind, aber trotzdem nicht von ihren neuen Spielzeugen lassen wollen. Doch dazu später mehr.

Unter diesem Gesichtspunkt darf man sich nämlich auch mal fragen, warum die Unsterblichkeit so populär geworden ist. Was ist daran erstrebenswert, die Taktung des Lebens zu verlieren? Ist es nicht eher eine Horrorvorstellung, müde zu werden und nicht schlafen zu dürfen? Das ist sogar eine bis heute angewandte Foltermethode. Ist es nicht eigentlich eine grausame Vorstellung, des Lebens müde zu werden, und nicht sterben zu dürfen?

Stop! Das will der intelligente, moderne Mensch natürlich nicht. Er will schon die Kontrolle behalten. Er will zwar unglaublich viel länger leben als es heute möglich ist, dann aber sagen können: „Es war schön. Es war toll, aber jetzt reicht’s. Und tschüss.“ Doch, wenn das so ist, warum dürfen das dann die Suizidwilligen von heute nicht auch für sich behaupten dürfen? Für wen soll dieser „Luxus“ überhaupt gelten dürfen? 

Die Christen retten sich aus dieser Zwickmühle, in dem sie das ewige Leben einfach auf den Zustand nach dem Tod verschieben und das Leben als Geschenk Gottes verkaufen – so ist man auf einfache Art und Weise eine Menge Verantwortung los. Cleverer Trick. Im Grunde aber total verlogen und überkommen, denn die gesamte westlich-christliche Forscherelite beschäftigt sich mit Genforschung und der erwünschten totalen Kontrolle über Zellen, Gene und deren Regenerationsfähigkeiten. Falls möglich, will man die Zelle ewig laufen lassen können. Totale Regenrationsfähigkeit und Ausrottung aller Krankheiten ist das hehre Ziel. Man ist bestrebt, die Taktungen und Endlichkeiten, die der Schöpfergott angeblich festgelegt hat, auszuhebeln. Das ist ein moralischer Spagat, der wirklich nur im Christentum-Light 2.0 funktioniert. Das könnte mir als Agnostiker eigentlich egal sein, aber ich lebe in dieser Gesellschaft, und ich frage mich: Ist das wirklich erstrebenswert?

Ehrlich gesagt hoffe ich für mich und meine Kinder, dass es den Forschern nicht in unseren Lebensspannen gelingt, die angestrebte Kontrolle über das Leben zu erreichen, denn ich glaube, dass wir noch nicht einmal in unserer jetzigen, modernen, vernetzten Welt geschafft haben, mit dem Verlust von Pausen, Ritualen und Rhythmen zurecht zu kommen, respektive uns notwendige neue Rituale und Taktungen zu geben.

In diesem ungeordneten Sinne, und um wieder auf’s ordinäre Online-Leben im wahren Leben zurückzukommen: Schaltet doch einfach mal das Internet ab. Ganz persönlich für Euch. Verordnet Euch Abstinenz, in verträglichen, aber (wichtig!) über den Tag hinausgehenden Dosen. Es steigert den Wert Eurer Online-Erfahrungen. Ich bin sicher.

Ich wünsche Euch eine erholsame Pause.

3 Kommentare zu „Pausenbrot“

  1. „Einfach mal das Internet abschalten“ ist tatsächlich nicht so einfach. Aber ich muss sagen, dass ich in meiner 5-tägigen Internetpause zwischen den Jahren nichts vermisst habe. Ich war mal wieder ausgiebig mit meinem realen Leben beschäftigt und hatte eine tolle Zeit! Aber das war auch eine Ausnahmesituation und nicht das Alltagsleben.

  2. @shivchen „ … ich muss sagen, dass ich in meiner 5-tägigen Internetpause zwischen den Jahren nichts vermisst habe. “ Das ist doch eine bemerkenswerte Erfahrung, die einen ins Grübeln bringen sollte, oder!?

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