Auf nach Island

Eigentlich ist es unglaublich, wie weit das tatsächliche Leben und Streben der Menschen, in dieser sich schnell entwickelnden Informationsgesellschaft, und die Planvorstellung der politischen Akteure von dieser Informationsgesellschaft, auseinanderliegen. 

So ist es auch nicht verwunderlich, dass der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, erstens wohl tatsächlich in Kraft treten wird, und zweitens in dieser Form in der Praxis völlig unbrauchbar ist (… als ob das Internet eine rein deutsche Angelegenheit ist.). Er ist letztlich eine Katastrophe für die Entwicklung von freier Meinungsäußerung im Netz, und damit für die Entwicklung von genau denen, die damit geschützt werden sollen.

Was dieser Staatsvertrag enthält, und wie er sich auswirkt, kann man sehr gut in diesem Artikel nachlesen, den ich wirklich jedem, für’s weitere Verständnis, und im Interesse seiner Bürgerrechte, zu lesen empfehle:

Lesepflicht für alle: 17 Fragen zum neuen JMStV » t3n News

 

Dieser Artikel richtet sich an alle in Deutschland, die im Internet Inhalte anbieten. Seien es private Blogs oder große Social Networks. Sie alle müssen sich ab dem 1. Januar 2011 mit dem in Kraft tretenden neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) befassen. Dieses Gesetz bringt zwar nicht viele neue Regelungen mit sich, dafür aber viel Verunsicherung. // http://t3n.de/news/neuer-jmstv-286977/1/

Nimmt man seine Bürgerpflichten als kleiner Blog-Betreiber also ernst, dann muss man ab Neujahr entweder Sendezeiten einführen, oder technische Konstrukte zur Altersverifizierung, oder Zugangsbegrenzungen einführen (wohlgemerkt solche, die es bisher noch nicht gibt).

 

Demgegenüber wurde bei Yuccatree heute morgen ein weiteres Highlight aus dem Inhalt des Vertrags sehr schön beschrieben:

Ausgenommen von dieser “freiwilligen Pflicht” zur Alterskennzueichnung sind übrigens Anbieter von Nachrichten “von allgemeinem Interesse”. Das stellt großen Nachrichtenseiten wie Spiegel Online von all diesen Pflichten frei. Es gibt keine objektiven Kriterien für “allgemeines Interesse”, ausschlaggebend ist offenbar nur die Anzahl der Leser. Bild.de darf also weiterhin sexistische Tittenbildchen für ein Publikum ab 0 Jahren ins Netz stellen, während ein kleines Blog mit erotischen Inhalten – und seien diese noch so romantisch und unsexistisch – sich mindestens ein “ab 16″ einhandelt. (aus: YuccaTree Post + » JMStV: Bundesländer beschließen juristisches Minenfeld für Blogger)
Es gibt jetzt schon Leute im Netz, die daraus ihre Konsequenzen ziehen:

Daher bleibt mir nur die Konsequenz, die Regeln für Internet-Startups auch auf meine eigenen Inhalte anzuwenden: Nicht in Deutschland, nicht in deutscher Sprache und nicht für Deutsche. Meine bisherigen Inhalte nehme ich morgen offline, und falls ich noch einmal irgendwas mache, dann für ein Land, das Zukunft hat.

Nicht Deutschland. (aus: Offline (JMStV) – Die wunderbare Welt von Isotopp)

Darüber kann man wütend werden, so wie es Thomas Knüwer passiert ist: Deutschlands Parteien: unwählbar – eine Wutrede. Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass man zum Nichtwähler werden sollte, halte ich für falsch. Geschrieben habe ich dazu hier etwas: Kommentar von jo jmatic zu Deutschlands Parteien: unwählbar – eine Wutrede. Viele Leute haben dort sehr gute Sätze in den Kommentaren niedergeschrieben. Das Lesen lohnt. 

Die Wahrheit ist, dass nicht nur Schwarz-Gelb mit der modernen Netz-Gesellschaft völlig überfordert ist, sondern dass auch die SPD und die Grünen auf diesem Gebiet einen Totalausfall darstellen:

Dieser Entschließungsantrag dokumentiert die Zustimmung von SPD und Grünen zum JMStV, denn ohne eine damit verbundene Zustimmung bräuchte man einen solchen Entschließungsantrag nicht formulieren und flankierend in den Landtag einbringen. (aus: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV): SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen entschließen sich zur Zustimmung » Pottblog)

Der absolute Oberhammer und eigentlich eine politische Bankrotterklärung ist dieser Satz, der in Twitter veröffentlicht wurde:

„Wir sind weiterhin gegen den #JMStV, die Fraktion hat sich aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen.“ (via: @gruenenrw)


Parlamentarische Zwänge!? Aha! Wie wär’s denn dann mit dem hier: „Wir sind gegen parlamentarische Zwänge, die Fraktion hat sich aber aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen.“ Wer mehr davon lesen will, dem sei diese Seite empfohlen: parlamentarische-zwaenge.de.

Parlamentarische Zwänge!? Da darf ich mich auf meinen eigenen Artikel von vorgestern beziehen: 

Alternativloskultur

[…] „Alternativlos“ ist da ein interessantes Wort. Man sollte mal darauf achten, wie oft es von Politikern benutzt wird. Mit diesem Wort erstickt Politiker gerne Gegenargumente, und zwar schon bevor sie erstmals atmen konnten: […]

Ganz offensichtlich ist „parlamentarische Zwänge“ nur ein anderes Wort für „Alternativlos“. Es gibt immer Alternativen! Vielleicht sollte man es tatsächlich machen, wie in einem der Blog-Kommentare bei Knüwer empfohlen, und ein Blog-Anbieter oder -nutzer in Island werden, nur um den hiesigen Politeusen zu zeigen, wie lächerlich ihre Ignoranz gegenüber den Realitäten ist.

Letztlich muss man natürlich abwarten, wie sich diese Geschichte noch weiter entwickelt. Das ungleiche „Hase und Igel“-Rennen zwischen technischer Entwicklung und Moral, und zwischen Gesellschaft und Politik wird hier allerdings einmal mehr überdeutlich.

5 Kommentare zu „Auf nach Island“

  1. @Hydroxi Ich hab‘ bis jetzt auch noch nix mitgekriegt. Allerdings glaube ich, dass sich die „alten“ Medien erstmal gründlich durch’s Netz lesen und dann die Politeusen mit dem Ergebnis konfrontieren. So wie bei Zensursula. Das Ding ist ja lange noch nicht durch.

  2. @bkblog Ja, dort muss jetzt erstmal S21 und Streetview verhackt werden, weil da die Politeusen gerade Meinung abgegeben haben. Die Journaille wird zu diesem Thema wohl erstmal abwarten, wie sehr es im Netz dann tatsächlich stürmt. Der große Unterschied zu den beiden anderen Themen ist aber, dass hier keine Interessen in der Analogwelt direkt tangiert werden, ausser dem Schutz der Kinder, und da wird wie bei Zensursula wohl zuerst mal die Moralkeule ausgepackt. Zudem wird es schwer werden, den nicht-netzaffinen Menschen die Problematik überhaupt zu verdeutlichen. Wie man gerade sieht, haben ja sogar Blog-Betreiber und Web-2.0-Nutzer Probleme die Zusammenhänge zu erfassen, denn die Restriktionen für die Blogbetreiber sind ja auch nur ein Teil des Problems. Stichwort: Netzneutralität.

  3. Nicht zu vergessen , dass die „anderen“ Medien nackte Busen und Co. zur schönsten Mittagszeit zeigen dürfen. Und der Oberknaller ist, das bild.de keine Altersbeschränkung bekommt, weil ein „Nachrichten“-Magazin eh über Gewalt / Krieg und Sex berichtet.Naja … ist eigentlich auch egal, ich habe mich jetzt 2 Tagen aufgeregt und brauche jetzt Ruhe.

  4. @bkblog Ja, das müssen wir tatsächlich jetzt erstmal auf uns zu kommen lassen: http://bit.ly/dL5BNsAllerdings ist es, wie Du schon gesagt hast (siehe BILD) ein äußerst schlampig gemachtes Werk, und das macht sauer, denn das heisst auch , das wieder viel Geld in die Hand genommen werden muss, bis da was mit Hand und Fuss herauskommt.Genauso wie bei S21: Der Bahn-Plan soll sauviel kosten. Deshalb wird demonstriert, damit nicht so viel Geld ausgegeben wird. Es kommt zur Schlichtung. Nach der Schlichtung wird das gleiche Ding doch gebaut und kostet dabei dann noch viel mehr. Mir ist das zu hoch.Sorry, musste mir auch gerade mal Luft machen.

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