Ich habe keine Ahnung, ob ich jemals in meinem Leben schonmal einen “Grand Prix de la …” komplett gesehen habe. Ich weiss aber sicher, dass ich den “Eurovision Song Contest” noch nie komplett gesehen habe. Bis gestern. Ich gebe zu, ich bin der Propaganda erlegen. Ich weiss es. Ich erschrecke vor mir selber, und muss darum reflektieren.
Mit fragendem Blick sitze ich hier also heute Morgen und lese die Nachrichten. Das Bild ist ein eindeutiges:
Kein Bohrloch, keine Oder-Flut und noch nicht mal diese Meldung, können quantitativ da mithalten:
Ist schon klar. Das Volk lechzt nach guten Nachrichten. Gerade europatechnisch. Volkes Meinung: “Wir zahlen für Europa, aber es liebt uns nicht dafür. Das ist gemein.” Da kommt der “ESC” mit so einem Ergebnis gerade recht, und Deutschland feiert seit Stunden sein neues Fräuleinwunder auf allen Kanälen, die zur Verfügung stehen:
Die meisten Einlassungen der Presse über das gestrige Ereignis kann man sich sparen. Da wird “was-eh-schon-jeder-weiss” in belanglose Worte verpackt. Ein Bericht jedoch hat mir gefallen. Warum? Na, weil da drin steht, was ich gestern Abend auch schon dachte. Ist doch klar. Ein Schelm wer hierbei folgendes denkt: Wir sind doch alle auf der Suche nach Bestätigung unserer eigenen Meinung, oder!?
Dieser Absatz aus dem Bericht bei suedeutsche.de: “Lena Meyer-Landrut: Ein bisschen Wahnsinn”, spiegelt meine Meinung zum Erlebten ganz gut wieder:
Charismafreie Zonen auf zwei Beinen
Durch den großen Jubel gerät indes ein bisschen in Vergessenheit, dass die Angelegenheit, die nun wie von Raab angestrebt zu einer Angelegenheit nationalen Interesses geworden ist, in Wahrheit eine ziemlich gruselige Veranstaltung ist. Wer am Samstag zwei Stunden lang die ESC-Beiträge der ins Finale gelangten Länder anhören musste, staunte schnell über die Erkenntnis, wie viele schlechte Lieder sich in 120 Minuten unterbringen lassen. Es gab billigsten Plastikpop, aufgedunsene Bombastballaden und derart belanglose Tonfolgen, dass sie wohl selbst einem Dreijährigen zu dämlich sein dürften. Da traten erstaunliche Pummelfeen in einer Art Weightwatchers-Ballett auf, wehte der Wind durch als Kleid getarnte Zelte, schlug dauern irgendwer Rad, und zwischendrin gab es sogar einen jungen Mann aus Serbien, der ein bisschen so aussah wie ein verlorener Sohn von Claudia Roth. Es soll die Leistung einer Lena nicht schmälern, aber bei ihren Mitstreitern handelte es sich in der Mehrzahl um charismafreie Zonen auf zwei Beinen, die verzweifelt versuchten, möglichst crazy zu wirken. Aus dieser Ansammlung von Verhaltensauffälligen musste eine wie Lena einfach herausstechen. Auch wenn ihr Auftritt ein bisschen sehr mager ausgeleuchtet war und sie nach den vielen Auftritten in der vergangenen Woche schon fast eine Spur zu professionell wirkte und der Lippenstift eine Spur zu dick aufgetragen war. Wie gut sie wirklich sein kann, bewies sie, als sie als Siegerin ihr Lied noch einmal sang. Da fiel die Routine von ihr ab, und auf einmal war sie wieder der süße Crazy-Fratz, der schon bei „Unser Star für Oslo“die Herzen im Sturm erobert hatte. (aus “Lena Meyer-Landrut: Ein bisschen Wahnsinn”)
Jep, als Mensch, der Musik in allen Variationen aufsaugt, und tolle Stimmen, grosse Kompositionen und atemraubendes Entertainment schon reichlich live erlebt hat, hat man definfitiv Probleme mit den Songs und den Künstlern auf der “ESC”-Bühne. Ich bin zwar, abweichend von der Meinung von Herrn Hoff, der Meinung, dass die Pummelfee aus Island eine tolle Stimme hatte, aber ansonsten sah ich es genauso: Es war eine Sammlung von “charismafreien Zonen” und Melodien, die eine Halbwertszeit hatten, die ungefähr der Moderationslänge zum nächsten Song entsprach. Richtig erschreckt hat mich die Aussage vom deutschen Off-Moderator, der zu einem Zeitpunkt meinte, dass die Qualität der diesjährigen Veranstaltung ja echt gut sei.
Echt? Oha! Na, da bin ich aber froh, dass die vorigen Kelche an mir vorübergingen. Man brauchte echt Kondition und Durchhaltewillen um bis zur Position 22 auszuhalten. Mehr als einmal zuckte mein Zapp-Finger über der Fernbedienung. Aber, Sozialexperiment ist Sozialexperiment und da wird nicht gekniffen.
Dann war es soweit: Ich ertappte mich dabei, dass ich beim Auftritt von Fräulein L. analysierte, verglich und zunächst dachte: “Oh, oh, zu wenig Licht, zu wenig Farbe. Das Bühnenbild is‘ nix.” Bis mir dann klar wurde, dass genau das der geniale Schachzug der Designer des deutschen Auftritts war: In soviel optischem und akustischem Mega-Kitsch sticht ein simples Lied – bei dem zumindest die Hookline so funktioniert, wie sie soll – in simpelster, sparsamster Deko richtig raus. Natürlich funktioniert das nur, weil Fräulein L. eben Fräulein L. ist und mit einer Ladung Charisma auf die Bühne marschiert, mit der man problemlos noch eine Kompanie Chanteusen versorgen könnte.
Dann kamen noch die Dänen mit einem absoluten Retorten-Song, der sowas von ohne Ecken und Kanten war, dass ich dachte: Entweder die, oder der “James Blunt-Verschnitt“ werden es reissen. Basta. Die Abstimmung begann, und genau hier wurde mir dann auch der Zugang, zum tieferen Verständnis dieser Veranstaltung ermöglicht. Nachdem die ersten Wertungen eingetrudelt waren, wurde mir bewusst, dass die Lieder und die Künstler hier ja absolut nur die Trägermedien für einen tiefgreifenden sozialen Prozess sind. Die Veranstaltung “ESC” hatte auf einmal einen Appeal, den ich zuletzt bei der WM 2006 verspürte. Streicheleinheiten für die nationale Seele, wie auch immer der Einzelne diese definiert: “Deutschland, Europa hat Dich lieb.” Untertitel: “Dieweil, Du hast ‚Lovely Lena‘!” Ach, so ist das!? Ok. 74 wurden wir auch nur wegen Beckenbauer geliebt, nicht wegen des Spiels.
Darum auch die Türkei soweit vorne, die Band ist wohl gerade der “Beckenbauer” der türkischen Rockmusik, denn der Song kann’s ja nun wirklich überhaupt ganz und gar nicht gewesen sein. Das wollte ich noch gesagt haben.
Ansonsten behaupte ich: Deutschland hat wieder ein Fräuleinwunder. Das ersetzt Michael Ballack bei der WM zwar nicht komplett, aber ist jedenfalls besser als nix. 😉
Hach, schön war das gestern …Meine Meinung ist ganz ähnlich: Ich fand die Stimmen der Mitstreiter zum Teil gut, wenn nicht gar perfekt, aber die Songs waren einfach zu … langeweilig. Zu glatt. Zu gewöhnlich. Nichts, das man in Erinnerung behält.Aber an Lena erinnert man sich. Sie hat’s gerissen, unglaublich! Einfach irre, dieses Mädel. Ein „süßer Crazy-Fratz“ eben. 🙂 Hoffentlich schafft sie es bei all dem Trubel, so unbeschwert zu bleiben, wie sie ist.
Also ich habe gepetzt! Vor Jahren habe ich mir das einmal angetan und mir geschworen, meine Lebenszeit irgendwie anders zu verbringen, als vor dieser Flimmerkiste mit den auch damals schon erstaunlich absurden europäischen Songs mit Tratralla und Designmode aus dem ersten Semester.Bis auf den genannten Kitzel während der Abstimmung habe ich nichts versäumt – die Lena habe ich mir gleich heute morgen per ARD-Mediathek mal angesehen und ich nehme an, ich werde zukünftig mehr von ihr sehen, dafür wird der Stephan schon sorgen.