Einfach mal lesen, und dann den zugehörigen Screenshot anschauen:
Fingernail Scratches in Main Gas Chamber, Auschwitz, Poland Stretched Canvas Poster Print by David Clapp, 12×16 – Link: http://www.amazon.com/Fingernail-Scratches-Chamber-Auschwitz-Stretched/dp/B004MK3KCY
Wie der Leser sicherlich jetzt verstanden hat, ist dies ein Angebot bei Amazon. Aufmerksam wurde ich auf dieses Angebot via An Ja bei Facebook gemacht. In einigen Kommentaren regte man sich auch dort schon über dieses Angebot auf. Allerdings sollte man diese Diskussion aus dem oberflächlichen Schwafel-Ambiente mit 420 Zeichen-Begrenzung befreien. Ich kann und will meine Gedanken dazu nicht in diesem weiß-blauen Laberhort ausbreiten. Man verzeihe mir das. Ich hämmere jetzt meine Gedanken mehr oder minder unstrukturiert hier nieder, damit ich nicht platze.
Ja, zur Sache. Man ist als bundesrepublikanisch sozialisierter Vorwendepazifist ziemlich geplättet, wenn man realisiert, was Amazon da anbietet: die Kratzspuren von sterbenden Menschen an den Wänden der Hauptgaskammer von Auschwitz, als kleine 12x16cm-Kopie. Ich denke, man ist beim Vertrieb, der sich bezeichnenderweise, kurz und werbewirksam art.com nennt, und wohl auch bei Amazon, der Meinung, das sei Kunst.
Ist das Kunst? Was definiert man denn so als Kunst? Eine Konsultation bei Wikipedia sollte hier schon etwas Griffiges bieten:
„Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses.“ (via Wikipedia)
Aha. Nun ja, jemand war dort und fotografierte dieses Bild. Er fotografierte genau diesen Ausschnitt, oder er fotografierte einen größeren Ausschnitt, und reduzierte, und konzentrierte später auf den nun zu sehenden Ausschnitt. Das Werk wurde dann auch noch benannt: „Fingernail Scratches in Main Gas Chamber, Auschwitz, Poland“. Ja, insofern ist das ein menschliches Kulturprodukt und das Ergebnis eines kreativen Prozesses.
Der Mensch, der dies tat, ist auch im Amazonangebot benannt. Es gibt mehrere Fotografen diesen Namens im Netz. Ich weiß nicht genau, welcher David Clapp es denn nun ist, der dieses Foto gemacht hat. Es ist mir auch egal. Ich bin kein Journalist. Einer von ihnen verdient sein Geld offensichtlich mit Landschafts-, Reise- und Architektur-Fotografie. Ich nehme mal an, dass Auschwitz wohl unter Reisefotografie fallen könnte – Auftraggeber unbekannt. Ich will aber hier nicht weiter spekulieren, denn darum geht es eigentlich nicht.
Wie oben schon erwähnt, verstört dieses Werk. Auch das kann Kunst leisten. Gute Kunst ist oft schon verstörend in Erscheinung getreten. Diese Freiheit haben wir in unserer Gesellschaft der Kunst ausdrücklich zugebilligt. Schon Schiller meinte, dass Kunst den Menschen entzweit. Auch das würde für das fragliche Werk also gelten, denn es entzweit. Die Kommentare bei Facebook sind zwar einhellig ablehnend und mit einem Tenor der Verständnislosigkeit versehen. Allerdings sind es wenige Kommentare, im Vergleich zu sonstigen Kommentarstrecken in diesem Sanktuarium der Beliebigkeit.
Man könnte daraus zwei Dinge schließen: erstens, dass eine Notwendigkeit zum Verstören besteht, weil Abstumpfung wieder zur Volkskrankheit geworden ist. Zweitens, dass das Werk tatsächlich seinen Zweck erfüllt und verstört. Den ersten Punkt kann man sich getrost schenken. Das ist eine Binsenweisheit. Natürlich ist Abstumpfung eine Volkskrankheit und natürlich braucht es verstörende Kunst. Geschenkt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und genau damit sind wir beim zweiten Punkt: Ja, das Werk verstört. Allerdings nicht, ob seiner künstlerisch provokanten Aussage, sondern weil es unscheinbar neben anderen Fingernagel- und sonstigen Produkten dieser Überflussgesellschaft angeboten wird. Niemand schenkte hier der Welt großartige, weil provokante Kunst. Jemand verkauft einen Bildausschnitt mit quasi ikonografischer und tatsächlich symbolhaft dargestellter, nicht zu übertreffender menschlicher Tragödie – zu einem Preis. Einfach zu einem Preis. Das ist es, was uns verstört. Die Reduktion des für uns größtmöglich denkbaren menschlichen Leids auf bezahlbare 12x16cm im Amazon-Regal.
Dort wo wir auch gestern noch gerne den neuesten „Harry-Potter“-Band oder die letzte „Fluch-der-Karibik“-DVD bestellt haben. Da wird schon nicht mal mehr das Böse banalisiert – es wird schlicht ignoriert. Es ist auch nicht so, dass dieses Bild das einzige Bild von Auschwitz wäre, welches man bei Amazon für kleines Geld erstehen kann. Das Angebot an Bildern ist vielfältig.
Es ist auch nicht so, dass Amazon hier der Gipfel der Taktlosigkeit und des Stumpfsinns wäre. Wer sich richtig aufregen will, der schau hier rein: http://www.onlineposter.de/p-Main+Gas+Chamber+with+Memorial+Auschwitz+Poland-4012022.html.
Diese Art der Darstellung übertrifft die Amazonpräsentation noch bei Weitem. Da fehlen mir die Worte.
Wer kauft aber so ein Bild?
Die Auschwitz-Lüge-Jünger? Diejenigen also, die öffentlich den Holocaust leugnen und denen man eigentlich nur stundenlang in die Fresse hauen möchte, wegen dieser menschenverachtenden Haltung? Kaufen die so etwas, weil sie ja in Wahrheit begeisterte Neo- oder Alt-Nazis sind, die sich in ihrem persönlichen 1000-jährigen Traum zu Hause vor solchen Bildern einen Runterholen? Vielleicht. Vielleicht auch eher nicht, denn diese Sorte besorgt sich ihren Content doch garantiert vor Ort. Wahrscheinlich ist es tatsächlich viel schlimmer und irgendwelche ikeasozialisierten Weltbürger halten das tatsächlich für kritische Kunst.
Im Grunde möchte ich persönlich gar nicht wissen, welche geistigen Flachspüler sich so etwas bei Amazon bestellen. Im Grunde möchte ich eigentlich nur wissen: Regelt hier tatsächlich nur die Nachfrage das Angebot?
Diese simple Frage ist Sprengstoff.
Eine andere Frage hätte ich auch noch: Würde die amerikanische Firma Amazon Bilder von 9/11 so präsentieren und verkaufen? Sagen wir ein Bild von einem Mauerstück mit Kratzspuren von einem Menschen, der verschüttet war?