Die Wolke, der Baum und der menschliche Moment

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via haha.nu

Ich stell‘ mir das so vor:

Der Baum stand da, wie jeden Tag, und dachte:

“Pfffh …, wat’n Tach.”

Von links näherte sich der Fussgänger und starrte den Baum an. Der Baum dachte weiter:

“Boah, wat sind die Leute taktlos. Ich steh‘ hier nackt rum, und der hat nix besseres zu tun, als mich anzuglotzen.”

Von hinten rechts schwebte eine Wolke heran, die der Baum aber gar nicht registrierte. Auf wundersame und völlig unerklärliche Weise ergab sich jetzt dieser eine Moment in diesem riesengroßen Universum, an dieser einen einzigen Stelle, wo ein, ansonsten völlig uninteressantes Gebilde aus Wasserdampf, in goldig schimmerndem Weiß, hinter einem ansonsten schmucklosen, weil blattlosen Allerweltsbaum, in einem kurzen Moment, diese optische Vereinigung ermöglichte, die in ihrer majestätischen und singulären Erscheinung nur daruch einen ästhetischen Wert erhalten konnte, weil ein Mensch sie erblickte, und aufgrund von zivilisatorischen Errungenschaften diesen einen Moment einfangen konnte. Dieser eine wundersame und philosophisch wichtige Moment war genau jetzt da.

Der Fussgänger blieb also abrupt vor dem Baum stehen, und dachte:

“Boah, total geil. Abgefahren … Warte mal, Blende 8 müsst’s tun …”.

Er zückte mit zusammengekniffenen Augen und in einer kurzen sicheren Bewegung seine “500-Euro-Canon-Schiess-mich-tot”-Knipse, und ließ eine lange Serienbild-Salve durchrattern.

Der Baum war total angepisst, bewahrte aber Haltung, blieb einfach still stehen und strafte die Fussgänger-Knips-Knallcharge simpel, aber effektiv, mit Verachtung. Das hatte seine Gattung so gelernt. Das funktionierte schon seit Jahrmillionen wunderbar. Einfach still stehen bleiben und nichts tun.

Der Fussgänger machte sich fast in die Hosen, als er auf seinem kleinen Vorschaumonitor die Ergebnisse betrachtete, ging mit dem Blick auf die Kamera gerichtet weiter, überlegte sich, ob er die Bilder erst bei Flickr oder doch gleich bei Facebook einstellen sollte. Dabei übersah er gedankenverloren das üble Schlagloch im Feldweg, trat rein, verlor das Gleichgewicht, hatte aber noch soviel Reflex, die wertvolle Monsterknipse am Band – mit fettem “CANON”-Aufdruck – mit beiden Händen nach oben zu halten, und knallte deshalb total ungeschützt auf die Fresse.

Der Baum dachte:

“Dämliches Arschloch. Geschieht Dir recht. Weiss doch jeder: Hektik kommt vor dem Astbruch. Wärste mal einfach stehengeblieben. Pfffh … wat’n Tach.”

Der Fussgänger stöhnte leise, spuckte eine Ladung Blut auf den Feldweg und rappelte sich auf die Knie hoch. Er packte seine ”Canone” in die Kameratasche, und befühlte dann seine bis vor 10 Sekunden noch vollständige, vordere obere Zahnreihe, die jetzt ein breites blutiges Loch hatte. Mit blutverschmierten Fingern wühlte er daraufhin im Feldwegdreck rum und suchte seine beiden vorderen Schneidezähne.

Er fand sie und legte sie vorsichtig in die kleine Plastikschachtel, in der sonst die Speicherkarte für die Kamera verstaut wird. Diese schob er dann vorsichtig in die kleine Nebentasche seiner Kameratasche. Natürlich nicht, ohne sie vorher penibel vom Blut befreit zu haben. Er stand auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose.

Im Aufstehen überlegte er, ob er vielleicht mit seinem Zahnarzt einen Sonderdeal aushandeln könnte, wenn er ihm als Gegenleistung für die Gebissreparatur, das Baumbild als Großdruck auf Leinwand für sein Wartezimmer anbot. Er fand, das sei eine gute Idee, freute sich über diese Idee, freute sich über sein Glück im Unglück, und ging los, ohne einen weiteren Blick auf den Baum oder die Wolke geworfen zu haben.

Der Baum tat das, was er immer tat: Er blieb stehen.

PS: Die Wolke hat von alledem überhaupt nix mitgekriegt, denn Wolken kriegen in der Regel eigentlich überhaupt nie irgendetwas mit. Sie löste sich schlicht und lautlos auf.

1 Kommentar zu „Die Wolke, der Baum und der menschliche Moment“

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